Das „Neue Deutschland“ veröffentlichte im Oktober 2011 Auszüge aus dem Nachwort.

Natur und Technik

Von Perlmuttwolken und Aluminiumhütten

Nichts wird so direkt mit Island assoziiert wie unberührte Natur in ihrer spektakulärsten Form. Schon die sogenannten Stop- Over-Touristen, die auf der Reise zwischen den Kontinenten einen Tag in Island verbringen, können Naturphänomene erleben, die ihresgleichen suchen. Der Besuch des Geysirs ist Pflichtprogramm. Tatsächlich gibt es nur eine regelmäßig ausbrechende Springquelle in Island, die praktischerweise in der Nähe von Reykjavík und neben dem Geysir liegt, der einst dieser Erscheinung seinen Namen gab und nun im Ruhestand ist. Zu sehen, wie das Wasser in den Schlot zurückläuft, dann überschwappt, die Zuschauer so einige Male zum Narren hält, bevor es sich für einen kurzen Moment zu einer himmelblauen Blase rundet und schließlich bis zu 30 Meter hoch in den Himmel schießt, ist ein unvergessliches Erlebnis.
Die Tourismusbranche bemüht zu Island die immer gleichen Phrasen: am Ursprung der Welt, Feuer und Eis, karge Schönheit, weite Landschaft, zwischen Himmel und Hölle, Mitternachtssonne und Nordlichter, öde Lavawüsten und fruchtbare Weiden, Vulkane und Gletscher. Ich kann nur zustimmen: Es ist extrem wunderbar und wunderbar extrem. Selbst in der Stadt vergeht kein Tag, an dem man nicht staunt. Reykjavíks Hausberg Esja feiert das ganze Jahr über Karneval, und während man in der Mittagspause die Umrisse des Gletschers auf der Halbinsel Snæfellsnes, Jules Vernes Eingang zum Mittelpunkt der Erde, klar erkennen kann, endet bei Feierabend die Sichtweite auf der anderen Straßenseite. Hat man sich deshalb auf Kuscheldecke und Tee eingestellt, muss man nach dem Abendessen doch noch mal vor die Tür, weil polare Perlmuttwolken aus Schwefel- und Salpetersäurekristallen für ein Feuerwerk über Reykjavíks bunten Wellblechdächern sorgen. Und wer einmal grün-gelb-rote Nordlichter über den schwarzen Winterhimmel hat zucken sehen, fängt vielleicht doch noch an, an Elfen zu glauben. Die Lichtverhältnisse allein sind schon eine Reise wert.
Zum Glück verlegt sich die Erinnerung meistens auf das Schöne, Positive, denn Island kann auch ganz anders! Einen finnischen Freund hat der isländische Regen nachhaltig beeindruckt, weil er den finnischen noch übertreffe. Hier regne es nicht nur von oben und von der Seite, sondern auch noch von unten. Er hat Recht. Dem in diesem Zusammenhang viel zitierten Sprichwort »If you dont like the weather in Iceland, wait a minute, it will change« möchte ich hinzufügen: Wenn man Glück hat. Es kann durchaus wochenlang graupeln, nieseln und schütten, so dass man vergisst, wie die Sonne aussieht. Auf den Westmännerinseln hat mich tagelanger Wind der Stärke 8 fast um den Verstand gebracht, weil jeder Gang nach draußen mit körperlichen Strapazen und Ohrenschmerzen verbunden war. Eine ältere isländische Dame sagte mal zu mir, man müsse mindestens drei Winter in Island überstehen, um das Land richtig kennenzulernen, denn »Sommer kann ja jeder«.
Entsprechend wichtig ist das Thema Wetter. Die Wetterberichte im öffentlichen Rundfunk und Fernsehen werden direkt vom meteorologischen Institut verantwortet, wobei man manchmal an der Telegenität, nicht aber an der Fachkenntnis des Wetterfrosches zweifeln kann. Die Isländer lieben es, über das Wetter zu reden. In Telefonaten mit Freunden wird dieses Thema innerhalb der ersten drei Minuten auf jeden Fall aufgegriffen. Oft sind ihnen meine Antworten nicht genau genug, was daran liegen kann, dass ich nur einen Bruchteil des isländischen Wortschatzes zum Thema Wetter beherrsche. Am Flughafen in Keflavík wirbt eine einheimische Outdoor-Marke mit dem Spruch: »There are over a 100 words for snow in Icelandic.« Auch wenn ich den Wahrheitsgehalt dieser Aussage entschieden in Frage stellen muss, wäre nur die Änderung eines Wortes nötig, um den Satz in eine beweisbare Behauptung umzuwandeln: »There are over a 100 words for wind.« Schaut man sich die berühmte Beaufort-Skala mit ihren 13 Windstärken auf Deutsch an, werden die fünf Substantive Zug, Brise, Wind, Sturm und Orkan mit Adjektiven variiert. Auf Isländisch gibt es zehn verschiedene Substantive, von denen drei durch ein Adjektiv präzisiert werden. So steht gola für »schwache Brise«, stinningskaldi für »starken Wind« und ofsaveður für »orkanartigen Sturm«. Aber irgendwie ist es zum Mäusemelken. Immer, wenn ich glaube, die Bezeichnungen für sämtliche Windstärken zu beherrschen, tauchen neue Wind-Vokabeln auf, die ich nie gehört habe. Irgendwie muss léttur vindur das gleiche bedeuten wie gola und sterkur blástur das gleiche wie stinningskaldi, wobei letzteres wohl auch noch stormkorn oder njóður heißen könnte. Oder so. Auf der anderen Seite gibt es nur eine Bezeichnung für Windstille. Es ist verständlich, dass der Wortschatz einer Fischernation in diesem Bereich groß sein muss, aber er fällt gerade hier auch regional sehr verschieden aus. Was auf den Westmännerinseln gilt, kann in den Ostfjorden ganz anders heißen. Ähnlich verhält es sich mit dem Regen, der im Sommer früher darüber entschied, wie die Heuernte ausfallen und somit das Vieh über den Winter kommen würde. Es gibt wunderbare Wörter, die die Beschaffenheit des Regens genau beschreiben, wie súld und úði, die einen besonders feinen Sprühregen bezeichnen, wobei nach Aussagen von Bekannten das eine eher mit kalten und das andere mit wärmeren Temperaturen verbunden ist. Ähnlich sieht es beim Thema Nebel aus, weshalb ich es weitestgehend aufgegeben habe, die Wetterberichte im Radio verstehen zu wollen. Ich brauche einfach eine herkömmliche Wetterkarte und basta.
Aufgrund seiner Unberechenbarkeit und des Ganzjahresschnitts ist das isländische Wetter nicht geeignet, um für das Land zu werben. Die Tourismusindustrie hat deshalb zwei garantierte Sympathieträger ausgemacht, die diese Aufgabe nun häufig übernehmen: Islandpferd und Papageitaucher. Will man es sich mit Isländern verscherzen, darf man gern vom »Islandpony« reden. Ist man an einem Wiedersehen interessiert, sollte man diese abwertende Bezeichnung tunlichst vermeiden. Ich kann mit Pferden eigentlich nicht viel anfangen, muss aber zugeben, dass mich Islandpferde um den Finger wickeln können. Aufgrund ihrer Größe kann man ihnen in die schönen Augen blicken, ihre Statur ist irgendwie vertrauenerweckend, und sie können die unglaublichsten Farben haben. Hier habe ich das erste Mal blonde Pferde mit schiefergrauem Fell gesehen. Meine Begeisterung darüber nahm ein abruptes Ende, als ich nach meiner Schilderung in ungläubig dreinblickende Gesichter guckte und mir sehr bestimmt zu verstehen gegeben wurde, dass es keine »blonden« und »schiefergrauen« Pferde gäbe. Das hieße, bitteschön, glófextur und móvindóttur, was soviel wie »goldmähnig« und »dunkelwindfarben« oder »Dunkelkohlfuchs« bedeuten müsste, wenn ich es richtig verstanden habe. Außerdem muss ich zugeben, dass Ausritte wirklich Spaß machen können, denn das Islandpferd hat gegenüber allen anderen Pferderassen einen unglaublichen Vorteil. Es kann nicht nur Schritt, Trab und Galopp, sondern oft auch den Pass und fast immer tölten. Diese spezielle Gangart ist wohl für Skeptiker wie mich gemacht, denn sie ähnelt einem nicht ganz sanften Schaukeln, so dass man es durchaus ein paar Stunden auf dem Pferderücken aushalten kann. Allerdings sollte man sein Herz in Island nur an ein Pferd hängen, das nicht für die Teilnahme an internationalen Wettbewerben trainiert wird. Die einheimische Rasse soll, wie bei den Schafen auch, mit aller Konsequenz vor Vermischung und vor allem vor Infektionen geschützt werden, so dass ein Islandpferd, das das Land einmal verlassen hat, nie mehr dorthin zurück darf. Aus dem gleichen Grund unterliegt auch die Einfuhr von benutzter Reitkleidung und von Reitsportzubehör strengsten Bestimmungen. Der Papageitaucher macht es einem auf andere Weise schwer. Der possierliche Seevogel mit den unbeholfen wirkenden Bewegungen und dem bunten Schnabel hat gerade eine schwere Zeit, weil seine Bestände wie die anderer Seevögel auch an der Südküste Islands in den letzten Jahren arg gesunken sind. Für 2011 ist von dort von einem Totalausfall in Sachen Fortpflanzung die Rede. Dabei leiden vor allem die Westmännerinsulaner, wo der Vogel nicht nur gern gegessen wird, sondern zum dortigen Sommer dazugehört wie das Festival am ersten Augustwochenende. Papageitaucher leben in Erd- und Felshöhlen an und in den Klippen, die die Küken Ende August verlassen, weil die Eltern sie nicht mehr versorgen, nachdem sie das wasserabweisende Federkleid bekommen haben. Unerfahren wie sie sind, fliegen sie in der Dämmerung die Lichter auf Heimaey, der bewohnten Insel, an, wo die Einwohner bereits auf sie eingestellt sind. In jenen Nächten fährt man besonders vorsichtig Auto und sammelt verwirrte Jungvögel ein, um sie bei Tageslicht von einem erhöhten Punkt aus in die Freiheit zu entlassen. So direkt mit dem Maskottchen Islands in Berührung zu kommen, ist ein tolles Erlebnis, auch wenn es ganz schön zwicken kann. An der Südküste fehlt nun seit einigen Jahren der Fisch, von dem sich die Vögel größtenteils ernähren. Unter anderem deshalb legen sie dort nun immer weniger Eier oder werden so spät flügge, dass die Eltern sie zu früh verlassen, um selbst rechtzeitig zur Überwinterung die Mitte des Atlantiks zu erreichen. Warum der Fisch verschwunden ist und was noch zu dem enormen Rückgang führt, weiß niemand so genau. Nachdem der Papageitaucher 2010 auf Heimaey noch fünf Tage lang gejagt werden durfte, setzten die Behörden im Sommer 2011 dort ein komplettes Jagdverbot durch. Insgesamt sind die Zahlen gejagter Vögel extrem rückläufig, so dass er zunehmend zu einer Delikatesse werden dürfte, obwohl er zum Beispiel auf Heimaey auf jeder Speisekarte steht. Man isst ihn sowohl geräuchert als auch frisch gebraten und anschließend gekocht. So zubereitet, erinnert mich sein Geschmack ein bisschen an Leber. […]